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Es ist einer der gewöhnlichsten und verbreitetsten Aberglauben, daß jeder Mensch nur eine ihm zugehörige, bestimmte Eigenschaft habe, daß ein Mensch gut, böse, klug, dumm, energisch, apathisch und so weiter sei. Die Menschen pflegen nicht so zu sein. Wir können von einem Menschen sagen, daß er öfter gut als böse, öfter klug als dumm, öfter energisch als apathisch und umgekehrt sei, aber es ist nicht wahr, wenn wir von einem Menschen sagen, daß er gut oder klug und von einem anderen, daß er böse oder dumm sei. Wir aber teilen die Menschen immer so ein. Und das ist nicht richtig. Die Menschen sind wie Flüsse: das Wasser ist überall gleich, überall dasselbe, aber jeder Fluß ist bald schmal, bald rasch, bald breit, bald still, bald rein, bald kalt, bald trüb, bald warm. Ebenso auch die Menschen. Jeder Mensch trägt in sich die Keime aller menschlichen Eigenschaften, und manchmal offenbart er die einen, manchmal die anderen, und ist oft sich selbst ganz und gar nicht ähnlich, während er doch immer dasselbe Selbst bleibt.
Aus: Leo Tolstoi: Auferstehung. Übersetzung von Ilse Frapan (OT: Воскресение. Erstveröffentlichug: 1899) Diogenes Verlag, Zürich 1993, S. 280.